Liebesbriefe Stadtbriefkasten (3/5)

Der Liebesbriefkasten ist eine konzeptionelle Arbeit über die Nachricht an sich. Die Nachricht übersetze ich nach Alexander Kluge als etwas „Erwähnenswertes“. Das Aufkommen der Schrift bedingt verschiedene Kulturformen, die mit dem Ereignis, dass die Abwesenden plötzlich anwesend sind, umgehen müssen. So empfand Platon das Aufkommen der Schrift als kühle Umgangsform und erinnert an die kalte Bürokratie (Herrschaft der Büros) der Ägypter und niemand erzählt oder erinnert sich mehr, sondern greift sofort zu den Büchern, um sich zu vergewissern oder etwas in Rechnung zu stellen. Deswegen ist die Lyrik Platons als Gespräch als eine wärmere Variante des Umgangs mit der kalten Schrift zu deuten. Anders als die Rechnung, welche das erste Schriftzeugnis der Menschheitsgeschichte ist. So erstaunt es nicht, dass die Venezianer als Händler eines der ersten Gesellschaften war, deren Alphabetisierung am frühesten fortgeschritten war, weil man Haben und Soll protokollieren musste. In diesem Spannungsverhältnis muss man auch den vierten Kreuzzug von 1202 als die Ritter mit viel Glaube, aber ohne Kenntnisse der Schrift und Rechnungswesen, die Venezianer für die Überfahrt ins Heilige Land nicht bezahlen konnten und die daraus ein Derivat machten, das zum Kreuzzug gegen die christlichen Schwestern und Brüdern in Byzanz mündete. So gibt es verschiedene Kulturformen als Antwort auf den Sinnüberschuss der Schrift. Neben dem Oikos, die Rechnung, die Grenze, das Eigentum und den Anspruch… aber auch als Antirealismus der Gefühle den Liebesbrief als Zeichen der Empfindungen über Entfernungen.